Hanna Elling war langjährige Mitarbeiterin in der Geschichtskommission der VVN/BdA Niedersachsen, sie ist heute Mitarbeiterin im "Studienkreis zur Erforschung und Vermittlung des deutschen Widerstandes 1933 - 1945 e.V." in Frankfurt. Veröffentlichungen: Frauen im deutschen Widerstand 1933 - 45, Frankfurt 1978.
Die Kameradin Hanna Elling schreibt selber über ihre Erlebnisse:
Als den deutschen Faschisten 1933 die Macht übergeben wurde, lebten mein Mann Kurt und ich in Erfurt. Bis Anfang 1930 hatten wir in Hannover gewohnt. Hier verbrachten wir die für unser politisches Leben entscheidenden Jugendjahre. Meine Eltern waren Mitbegründer der KPD in Bremen und so wuchs ich in die kommunistische Bewegung hinein. 1919 wurde ich mit 11 Jahren Mitglied des Jung-Spartakus-Bundes und 1922 des KJVD in Hannover, wohin wir inzwischen verzogen waren. Kurt gehörte der Monistischen Jugend, einer Freidenkerjugend-Organisation, an und trat 1926 zum KJVD über. Wir beide waren in der KJVD-Gruppe Hannover-Zentrum tätig. In dieser Zeit bildeten sich überall Agitpropgruppen, die den Kampf der Partei um die Einheitsfront, in den Streikbewegungen und besonders in den Wahlkämpfen unterstützten. In Niedersachsen war es die Gruppe "Links ran", in der auch Kurt mitwirkte.
Ostern 1929 nahmen wir mit unseren hannoverschen Genossen am Internationalen Jugendtag in Düsseldorf teil. Vor 15000 Teilnehmern rief Ernst Thälmann dazu auf, im Kampf gegen die wachsende Gefahr des Faschismus fest zusammenzustehen. Bald darauf bekamen wir das Angebot, in Thüringen zu arbeiten und übersiedelten nach Erfurt. Meine Eltern zogen 1931 nach Berlin. In Erfurt gab es eine starke Arbeiterbewegung. Sie erfaßte in der "Antifaschistischen Aktion" breite Bevölkerungskreise und veranstaltete in den Jahren 1931 - 1933 große Kundgebungen auf dem Domplatz.
Im Februar 1933 häuften sich die Überfälle der Polizei auf die Verlags- und Redaktionsräume und die Beschlagnahme der Zeitung. Eines Tages fuhr ein Lastwagen der Polizei vor und brachte alle Mitarbeiter des Verlages zu erkennungsdienstlichen Maßnahmen (Fotos und Fingerabdrücke) in das Polizeipräsidium. Am Morgen nach dem Reichstagsbrand, am 28.02.1933, überfielen SA und Polizei das Verlagsgebäude und versiegelten die Räume. Wir konnten noch das Haus verlassen. Kurz vor unserer Wohnung traf ich eine Nachbarin. Wir hatten bislang keinen Kontakt zueinander, zumal wir noch nicht lange in der Straße wohnten. Sie sagte: "Gehen Sie nicht nach Hause, vor der Tür steht SA und wartet auf Sie."
Auf meine Frage, wohin ich denn gehen solle, da ich außer meinen ebenfalls gefährdeten Genossen hier niemanden kenne, meinte sie nach kurzer Überlegung: "Ich bringe Sie zu Bekannten, dort können Sie sicher eine zeitlang bleiben." Und so geschah es. Es war eine vielköpfige Arbeiterfamilie, die mich ohne Bedenken aufnahm und für weitere Unterkunft bei Bekannten sorgte. Ich werde die Beweise uneingeschränkter Solidarität meiner Nachbarin und der beiden Familien nie vergessen. Diese Solidarität war Teil des antifaschistischen Widerstandes 1933-1945. Die Hilfsbereitschaft der Menschen, die am aktiven Kampf nicht teilnehmen mochten oder konnten, war für die illegale Arbeit von großer Bedeutung und hat viele Leben gerettet. Auch in den Gefängnissen, den Zuchthäusern und den Konzentrationslagern erwiesen die politischen Häftlinge ihren Mitgefangenen große Solidarität.
Wie überall in Deutschland wüteten auch in Erfurt die SA-Horden. Bereits in den ersten Märztagen wurden bekannte Funktionäre der KPD ermordet. Darunter unser Redakteur Jupp Ries. Sie jagten ihn über Hundehürden und erschossen ihn.
Wir hatten eine Reihe von Vorbereitungen für die Illegalität getroffen. Alle Hilfsmittel zum Druck von Flugblättern waren in einer Gartenkolonie untergebracht und die Herstellung der Schriften und ihre Verbreitung organisiert. So konnte die Nachricht über die Mordtaten der Faschisten in der Bevölkerung verbreitet und zum Sturz der Naziregierung aufgerufen werden. Die Flugblätter wurden auf Bänken, in Briefkästen, in der Straßenbahn - eingeschlagen in Zeitungen - überall dort, wo sich Menschen aufhielten, verteilt.
Nach einigen Wochen wurde das Versteck verraten und der Lieferant des Papiers von der SA erschlagen. Ich lebte und arbeitete unter den besonderen Bedingungen in meinem illegalen Quartier bis Anfang August 1933. Da erhielt ich die Nachricht, daß mein 14-jähriger Bruder Lorenz mit dem Fahrrad aus Berlin angekommen sei. Er hielt sich bei meiner Nachbarin auf. Er wollte mich im Auftrag unserer Mutter auffordern, nach Berlin zu kommen.
Mein Vater wurde von den Faschisten gejagt und emigrierte auf Beschluß seiner Partei nach Prag. Bei dem Treff mit meinem Bruder wurde ich verhaftet und ins Polizeipräsidium eingeliefert. Auf dem Wege dorthin fuhren sie mich durch die Gartenkolonie, in der das illegale Material hergestellt worden war. Ich hatte große Angst, aber es passierte nichts. Im Gefängnis traf ich die bereits verhafteten Genossinnen und Genossen und auch meinen Mann. Er war schon vor mir aus einer illegalen Sitzung des KJVD heraus verhaftet und bei den wöchentlich stattfindenden Mordorgien der SA schändlich gefoltert worden. Ein Wachtmeister - er gehörte der SPD an - ermöglichte uns ein Wiedersehen am Gitter zur Männerabteilung. Papa Schulz - wie er genannt wurde - war zum Weinen erschüttert, wenn "seine Häftlinge" am "Verhörtag" des SA-Schlägertrupps zurückkamen.
Unter den Gefolterten befanden sich in der Zeit zwischen März bis Juni 1933 auch Frauen. Dann erhielt der Polizeipräsident von Fichte von seiner vorgesetzten Behörde die Warnung, er möge nicht so viele Menschen "auf der Flucht erschießen" lassen. Berichte über den Terror gingen schon damals bis ins Ausland. Die Morde hörten auf, aber die Folterungen gingen weiter.
Die inhaftierten Männer kamen bald in das KZ Esterwegen. Im September 1933 wurden wir Frauen mit der "Grünen Minna" und im Reichsbahn-Gefangenen-Transportwagen über Kassel nach Moringen gebracht. Moringen war das erste zentrale Frauenkonzentrationslager, untergebracht in einem sogenannten Arbeitshaus. Damals war die Behandlung noch "human", wenn man sie mit den Vernichtungsmethoden in dem 1939 gebauten großen Frauen-KZ Ravensbrück vergleicht. Dort haben von 133000 Mädchen und Frauen nur 40000 überlebt.
In Moringen befanden sich Ende 1933 etwa 75 Funktionärinnen der Arbeiterbewegung. Manche von ihnen trug noch die Spuren der SA-Folter. Ich traf dort u.a. aus Hannover Marie Grzschick, Minna Könnecke und ihre Mutter Lisbeth. Sie war lange Jahre Mitglied der Bürgerschaft im hannoverschen Stadtparlament.
Arbeit gab es keine für uns. Wir saßen den ganzen Tag auf Hockern und jede versuchte, sich an der hinter ihr Sitzenden anzulehnen. Nur Schwangere erhielten einen Stuhl. Ich bin mit meiner "Lehne" noch heute gut befreundet. Beaufsichtigt wurden wir von Frauen aus der NS-Frauenschaft. Ich erinnere mich noch deutlich daran, wie sie voller Angst zögerten, in unseren Raum zu kommen. Immerhin waren wir ihnen ja als gefährliche Untermenschen geschildert worden. Umso erstaunter waren sie, als sie uns näher kennenlernten. Abends durften wir uns zusammensetzen, diskutieren, lesen, Sprachen lernen, Schach und Karten spielen. Wir bildeten eine große Gemeinschaft. Das Ergebnis unserer langen Aussprachen: Die frühzeitige Überwindung der Gegensätze innerhalb der Arbeiterbewegung hätte die Machtübergabe an die Nazis verhindert.
Ich wurde am 01.03.1934 aus Moringen nach Erfurt entlassen. Unsere Nachbarin war inzwischen umgezogen und hatte unsere wenigen Möbel mitgenommen. Sie nahm mich auf. Ich mußte mich einmal wöchentlich im Revier melden, erhielt pro Woche 7,50 RM Unterstützung und wurde aufgefordert, Erfurt zu verlassen. So fuhr ich also nach Berlin zu Mutter und Bruder. Das dortige Arbeitsamt wollte mich sofort als Ladenhilfe vermitteln. Um das zu verhindern, stellte mich meine Kusine in ihrer Bäckerei ein. Natürlich stand unsere Wohnung unter ständiger Beobachtung.
Als Freunde mich in die Luftversicherung, eine Tochter der Lufthansa, als Buchhalterin vermittelten, wurde ich bald zur Direktion gerufen, nach Parteizugehörigkeit vor 1933 und Haftzeit gefragt und fristlos entlassen. Schließlich stellte mich eine jüdische Textilfirma ein. Mit gutem Gewissen konnte ich einen Revers unterschreiben, daß ich vor 1933 nicht Mitglied der KPD war (ich gehörte ja dem KJVD an).
In Berlin fand ich schnell Kontakte zu Genossen aus Hannover und Erfurt, die bereits vor 1933 nach dort übergesiedelt waren. So gab es auch bald wieder die Möglichkeit, mich in die Widerstandsbewegung einzureihen. Ich arbeitete in einer Gruppe, der Karl Ebeling angehörte. Er war 1931 aus Hannover nach Berlin gekommen. Meine Aufgabe: Auswertung der Zeitungsberichte, die für den antifaschistischen Kampf wichtige Hinweise boten, z. B. das Verfolgen der Wirtschaftsberichte, die die Wiederaufrüstung auswiesen. Die Ergebnisse übergab ich im 14-Tage-Turnus einem weiteren Mitglied unserer Gruppe. Ich kannte nur zwei Kameraden. Damals hatte die Widerstandsbewegung schon ihre Lehren aus der Anfangszeit des Kampfes gezogen, als die breiten Organisationsformen der Parteien einfach übernommen wurden und die Verhaftungswellen dementsprechend "erfolgreich" waren.
In diese Zeit fiel auch die Vorbereitung der 11. Olympischen Spiele, die die Macht des faschistischen Regimes weltweit demonstrieren sollten. Damit wurde auch die Widerstandsbewegun besonders gefordert. Es gelang den verschiedenen Gruppen in Berlin, Mitteilungen über den Terror und die Kriegsgefahr in illegalen Schriften an die Besucher weiterzugehen.
Kurz vor der Olympiade wurden Mitglieder meiner Gruppe verhaftet. An meinem Treff stand ich allein, auch der Ersatztreff klappte nicht.
Über Lucie Ebeling erfuhr ich dann von Karls Verhaftung und der Verhaftung anderer zur Gruppe gehörender Genossen. Im Prozeß erhielt Karl drei Jahre Zuchthaus, beantragt waren sechs Jahre. Kurz darauf - im August 1936 - wurde mein Mann aus dem KZ Lichtenburg entlassen. Wir suchten uns eine kleine Wohnung, weil es bei Mutter zu eng wurde. Anfang 1937 wurde dann unsere Mutter verhaftet. Sie arbeitete seit 1934 in einer Großküche und hatte bei ihren Mitarbeitern Geld für die Rote Hilfe gesammelt. Das Urteil lautete über eineinhalb Jahre Gefängnis, die sie in Cottbus absitzen mußte. Mein Bruder Lorenz war damals noch in der Lehre. Lorenz aß bei uns. So konnten wir den Beiden das Zuhause erhalten.
Mit meinem Vater, der in dieser Zeit die Zentrale der Roten Hilfe in Prag leitete, hatten wir über unbelastete Freunde Kontakt. Ich besuchte ihn Ostern 1935 auf illegalem Wege über das Riesengebirge, berichtete von unseren persönlichen Erlebnissen und den Schwierigkeiten, unter denen der illegale Kampf geführt werden mußte.
Kurt und ich trafen an den Wochenenden irgendwo außerhalb Berlins mit Genossen zusammen, die noch nicht verhaftet oder wieder entlassen waren, u. a. mit Erna und Bernhard Almstadt und Lucie Ebeling. Diese Zusammenkünfte konnten wir bis zum Sommer 1944 durchführen.
Ausführliche und harte Diskussionen gab es zum Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Schließlich waren wir alle der Überzeugung, daß das Abkommen einen Zeitgewinn für die UdSSR bedeutete. Sie war einem Überfall der deutschen Faschisten noch nicht gewachsen.
Vom Überfall auf Polen erfuhren wir auf einer Bootsfahrt mitten auf einem der Berliner Seen. Der Krieg hatte begonnen.
Meine Mutter war kurz vorher aus Cottbus entlassen worden. Es gelang mir, für sie einen Arbeitsplatz in der Deutschen Schlauchbootfabrik zu organisieren. Der Inhaber war der Bruder der späteren Vorsitzenden des DFD (Demokratischer Frauenbund) in Niedersachsen, Frau Grete Petras.
In der Firma waren u. a. Erna und Bernhard Almstadt untergeschlüpft. Der spätere Ministerpräsident in Niedersachsen, Alfred Kubel, gehörte ebenfalls zur Belegschaft.
Mein Bruder wurde Anfang Dezember 1939 zur Wehrmacht nach Frankfurt (Oder) eingezogen. Er war 21 Jahre alt. Am 16.12. erhielt Mutter ein Telegramm "Sohn schwer erkrankt". Er hatte eine Angina mit Lungenentzündung. Sein Kompanieführer überwies ihn zu spät ins Lazarett, es gab keine Rettung. Lorenz starb am 22.12. Beatrice und Hildegard Jadamowitz, die mit ihm im gleichen Betrieb arbeiteten, erlebten mit uns diese schweren Stunden. Beatrice wurde 1942 zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, Hildegard am 18.08.1942 in Plötzensee hingerichtet, sie gehörte der Baum-Gruppe in Berlin an.
Eines Tages, nach dem Überfall auf die UdSSR, klingelte es bei mir, als ich allein zu Hause war. Vor der Tür standen zwei Frauen der NS-Frauenschaft, die mich nach unseren Eheverhältnissen fragten. "Trinkt Ihr Mann oder schlägt er Sie?" Das war wohl ihre Vorstellung einer kommunistischen Ehe. Kurt wurde nach diesem "Besuch" für wehrwürdig erklärt und kam an die Ostfront. Eine dicke Akte begleitete ihn, das sagte ihm im Vertrauen ein junger Offizier. Zum Glück in dieser Situation wurde er bald schwer krank. Nach der Genesung ging es erneut gegen Osten. Schon nach wenigen Tagen durchschlug ein Geschoß seinen Oberschenkel. Wieder folgten lange Lazarett- und Genesungswochen.
Die Schlacht um Stalingrad hatte inzwischen den Wendepunkt des Krieges eingeleitet. Fieberhaft verfolgten wir die ausländischen Nachrichten am Rundfunk. Der Sieg über den deutschen Faschismus wurde zur Gewißheit.
Tief erschüttert mußten wir noch die Hinrichtung unseres Freundes Bernhard Almstadt am 8. November 1944 erleben. Die Tage, die wir mit Erna und ihrer Tochter Susi in Furcht und Hoffnung um sein Leben durchstanden, bleiben unvergessen.
Kurt und ich wollten Adolf Hitler kein "Kind schenken". Jetzt aber hatten wir den Mut zu einem Kind. Unsere Tochter wurde am 07.06.1945, vier Wochen nach der Befreiung geboren. Ich war inzwischen in die Nähe Hannovers in ein kleines Dorf evakuiert worden. Von Kurt hatte ich keine Nachricht. Im August 1945 kam er aus der Gefangenschaft. Mein Vater mußte vor den Nazis aus der Tschechoslowakei nach Norwegen und dann nach Schweden fliehen. Er kehrte Anfang 1946 nach Berlin zurück.
In unserer alten Heimat Niedersachsen begann für Kurt und mich ein neuer Abschnitt unseres Lebens, angefüllt mit Aufgaben, die wir als Vermächtnis des deutschen Widerstandes erfüllen möchten.
Seit 1972 arbeiten wir im gleichen Sinne in Hessen.
Die Baum-Gruppe war eine Widerstandsgruppe von jüdischen Jugendlichen in Berlin, deren sämtliche Mitglieder 1942 hingerichtet wurden.