Mit diesem Motto hat Dörchen Gaßman ihr Leben versehen. Sie erzählt es selbst - hören wir ihr zu!
Ich wurde 1904 geboren. Meine Eltern waren als junge Leute auf der Suche nach besseren Arbeitsmöglichkeiten aus dem Osten nach hier (Hannover) gekommen, Vater aus Ostpreußen. Er fand Arbeit als Feilenschleifer in einer kleinen Werkstatt in Linden. Meine Mutter kam aus Schlesien. Sie war fromm erzogen. Sie hatte viel zu tun, die auf drei Jungen und fünf Mädchen angewachsene Familie zu versorgen, von der ich die jüngste war.
Ich war ein Jahr alt, als mein Vater an den Spätfolgen eines im Betrieb erlittenen Unfalls starb. Da der Betriebsunfall als Todesursache nicht anerkannt wurde, blieb Mutter ohne Unterstützung und Hilfe mit acht Kindern allein. Not und Elend, der Hunger besonders in den bald folgenden Kriegsjahren 1914-18, ließen sich auch durch unser Beten nicht vertreiben und vielleicht zum erstenmal kam mir der Gedanke, warum es gerade bei uns nicht half.
Der erste Weltkrieg brachte neues schweres Leid für uns. Von den drei Brüdern fiel der jüngste 1915, der zweite, schwer hirnverletzt, starb an den Folgen, der dritte allein überlebte bis 1940. Das war die glückliche Kindheit in einer Arbeiterfamilie.
Da ich in den Kriegsjahren nichts lernen konnte, arbeitete ich in der Rüstungsindustrie - bis am 9. November 1918 die revolutionären Arbeiter und Soldaten uns nach Hause schickten und die Rüstungsbetriebe schlossen. Durch die Diskussionen bei den riesigen Erwerbslosenversammlungen in der Stadthalle und den daran anschließenden Demonstrationen zum Rathaus mit der Forderung nach „Arbeit und Brot” zog ich die Lehre, daß man gemeinsam kämpfen muß und trat 1919 mit 15 Jahren in die Gewerkschaft ein.
Ich arbeitete lange Jahre in Frauenbetrieben, z. B. bei Bahlsen, und hatte bald die Sympathien meiner Kolleginnen, die ich für die Gewerkschaft gewinnen wollte. Das war zunächst sehr schwierig, da oft zu Hause die Männer, die nicht selten selbst Gewerkschafter waren, die politische Organisation ihrer Frauen nicht einsehen wollten.
Der immer stärker drohende Faschismus in den Jahren vor 1933 veranlaßte mich, 1929 in die KPD einzutreten. Beim Flugblätterverteilen in der Altstadt lernte ich z. T. unbeschreibliche Zustände kennen - in Häusern ohne Stromversorgung, nur mit Petroleumöfen ausgestattet, lebten die Menschen auf engstem Raum, die Kinder nur mit einem Hemdchen bekleidet. Wir sind in die Häuser gegangen und haben diskutiert. Ich kann mich erinnern, daß gerade der § 218 ein zentrales Thema dieser Diskussionen war. Diese Erlebnisse bestärkten mich noch mehr, für die Belange der Frauen und Kinder einzutreten.
Die nun folgenden Jahre bis zur Machtübernahme der Nazis waren ausgefüllt mit intensiver Arbeit in der Gewerkschaft und Frauenbewegung. Ich erkannte, daß die Solidarität der Frauen ein wichtiger Faktor ist, der uns in den Jahren der Verfolgung noch oft geholfen hat.
Die erste Verhaftungswelle nach dem Reichstagsbrand verschonte auch unsere Genossen nicht. Sie wurden mit mehreren in den Zellen untergebracht, ohne das Notwendigste zum Sauberhalten.
Nach der Reichstagswahl im März 33, bei der die KPD trotz rigoroser Behinderung 12% der Stimmen bekam, setzte die zweite rohe Verhaftungswelle ein. Alle Kandidaten der KPD wurden verhaftet, darunter auch meine ältere Schwester und meine Freundin Olga Bergner. Nun war es unsere Aufgabe, die wir noch frei waren, für die inhaftierten Genossen zu sorgen.
Der mir bekannte Genosse Theo Gaßmann war ebenfalls unter den Verhafteten. Zuvor hatte er illegal in der Wohnung meines Bruders gewohnt und war nun mit dem Wohnungsschlüssel in der Tasche verhaftet worden. Ich ging mit seiner Mutter zum Polizeipräsidium in die Hardenbergstraße und gab mich als seine Verlobte aus, um diesen Schlüssel wieder in meine Hände zu bringen. So wurde ich die „Braut” eines Inhaftierten.
Eines der vielen Erlebnisse in jener Zeit ist mir unvergeßlich. Wie immer brachten wir unseren verhafteten Männern die Wäsche ins Präsidium, doch diesmal wollte man sie uns aus irgendeinem Grunde nicht abnehmen. Wir bestanden darauf, und die Männer riefen uns von innen zu, fest zu bleiben, sie stimmten die Internationale an und wir Frauen sangen mit Tränen in den Augen mit, bis die Polizei uns vom Hof trieb.
Bald darauf wurden die Männer ins Lager Moringen überführt. Das bedeutete neue Schwierigkeiten für die Frauen der Inhaftierten, die wenigsten hatten Geld für regelmäßige Besuche. In Hameln fand sich dann ein hilfreicher Freund, der für 2,50 RM uns alle 14 Tage nach Moringen fuhr.
Der Hungerstreik in Moringen mit Besuchsverbot brachte neue Unruhe. Um Näheres zu erfahren, gingen wir mit vier Frauen zu Kommissar Müller, der uns kaltschnäuzig sagte: „Ihre Männer wollen nicht essen, da können wir auch nichts daran ändern.”
Übrigens unterstände das Lager dem Major von Berglingen. An dessen Dienststelle wollte uns der Pförtner abwimmeln. Wir bestanden aber darauf, vorgelassen zu werden und wurden schließlich vom Vertreter des Majors empfangen. Auch er versuchte auszuweichen, wir ließen uns aber nicht abschütteln. Endlich verließ er für eine Weile das Zimmer und eröffnete uns, als er zurückkam: „Der Hungerstreik ist heute morgen beendet. Sie können Ihre Pakete absenden. Besuch aber erst in 14 Tagen!”
Über den Hungerstreik war sofort ein Flugblatt verteilt worden. Zwei Frauen wurden dabei verhaftet und dafür mit einem Jahr Gefängnis bestraft. So haben die Frauen in dieser schweren Zeit immer wieder Mut und Solidarität bewiesen.
Aber noch viele bittere Stunden sollten folgen. Am 9.11.1933 wurde ich verhaftet. Bei meiner Vernehmung am 11. November brachte man den Genossen Kurt Willkomm ins Zimmer, bevor ich nach draußen gebracht wurde. Er wurde von zwei Leuten gehalten, allein gehen und stehen konnte er nicht mehr, sein Aussehen war schrecklich und einige Tage später war er den viehischen Mißhandlungen erlegen. Gleich danach erscholl abends über den Gefängnishof in der Leonhardtstraße, Hannover: „Unser tapferer Genosse Kurt Willkomm hat seine Standhaftigkeit mit dem Tod besiegelt.” Nie werde ich den Anblick des Genossen Kurt vergessen, dessen Tod bis heute, wie so viele andere hier bei uns, noch immer ungesühnt ist.
Die Anklage in meinem Prozeß lautete auf Vorbereitung zum Hoch- und Landesverrat. Wir waren neun Angeklagte, acht Männer und ich, die einzige Frau. Einer der Angeklagten war ein V-Mann (Verbindungsmann = Spitzel). Uns wurde vorgeworfen, illegale, staatsfeindliche Materialien verteilt zu haben. Diese „staatsfeindlichen” Materialien waren eine Zeitung, die wir insgesamt dreizehnmal verteilt hatten. In der Zeitung hatten wir „staatsfeindliche Geheimnisse” veröffentlicht, nur Nummer 11 und 13 wurden von diesem Vorwurf ausgenommen.
Das in diesen beiden Ausgaben veröffentlichte Telegramm von Krupp von Bohlen-Halbach an Hitler, mit dem er sich für die zahlreichen Rüstungsaufträge bedankte, war also kein Geheimnis.
In unserem Prozeß wurde der Vorwurf des Landesverrats fallengelassen, weil man annahm, daß die von uns verteilten Schriften nie über Deutschlands Grenzen hinausgekommen seien. Der Staatsanwalt beantragte drei Jahre Zuchthaus für mich. Ich wurde dann zu 18 Monaten Zuchthaus verurteilt, weil ich außerdem die KPD mit 1,50 Reichsmark unterstützt hätte. Ich war die erste Frau im damaligen Bezirk Hannover-Braunschweig, die zu Zuchthaus verurteilt wurde. Selbst die Beamtinnen bei meiner Einlieferung im Zuchthaus Kassel-Ziegenhain konnten das nicht fassen.
Im Zuchthaus lernte ich noch manch tapfere Kämpferin kennen. So die Genossin Johanna Melzer, die wegen ihrer Standhaftigkeit selbst von der Gestapo den Namen die „eiserne Johanna” bekommen hatte. Nicht vergessen kann ich auch die ehemalige Reichstagsabgeordnete Himmelheber, die derzeit mit mir dort einsaß. Auch diese tapfere Frau bezahlte ihre Treue zur Arbeiterbewegung mit dem Tode, sie wurde später hingerichtet.
Nach meiner Entlassung im Mai 1935 heiratete ich Theo Gaßmann, meinen „Verlobten”. Wir lebten zuerst in Springe, wo ich Arbeit in einer Stuhlfabrik fand. Es war eine schwere Zeit für politisch Abgestempelte, aber wir erhielten auch immer wieder Beweise der Solidarität und des Vertrauens von vielen Seiten. Im Februar 1937 wurde Theo zum zweitenmal verhaftet. Man hatte ihn von der Arbeit weg, nur mit dünnen Kleidern am Leib, abgeholt. Ich wollte ihm wenigstens warme Kleider schicken.
Nun begann für mich wieder eine bittere Zeit. Fünf Monate hatte ich keine Nachricht, da mir Briefeschreiben und Besuche untersagt waren. Wer weiß, was das bei den Vernehmungsmethoden der Gestapo für mich bedeutete, der kann sich meine Unruhe vorstellen. Immer hatte ich das Bild des geschundenen Kurt Willkomm vor Augen, wenn ich an meinen Mann dachte. Und die Gedanken lassen sich nicht abstellen wie eine Uhr! Es ist wohl niemals zu ermessen, was die Frauen und Mütter der Inhaftierten an schlaflosen Nächten verbracht haben. Für mich war das Ergebnis der körperliche Zusammenbruch. Geschwächt von der Haft und all dem Vorhergegangenen wurde ich krank. Ich ging zurück nach Hannover zu meiner Mutter.
Bei meinem Versuch, die Besuchserlaubnis zu bekommen, war ich nach Hildesheim gefahren. Hier wollte mich der Gestapo-Beamte Wenzel zu Spitzeldiensten gewinnen. Nachdem ich das von mir gewiesen hatte, sagte er: „Nach Ihrer Akte, die wir eingesehen haben, rate ich Ihnen nur: Sollten Sie noch einmal in unsere Hände fallen, nehmen Sie lieber gleich einen Strick und hängen sich auf!”
Theo war zu 3 1/2 Jahren Zuchthaus in Kassel-Wehlheiden verurteilt worden. Da er nun schon das 2. Mal in Haft war, brachte man ihn nach dem Verbüßen seiner Haftstrafe in das KZ Sachsenhausen. Zum Glück überstand er diese schweren Jahre. Unterdessen versuchte ich, in Hannover Arbeit zu bekommen.
Auf dem Arbeitsamt mußte man doch immer „Heil Hitler” sagen. Ich konnte das einfach nicht über meine Lippen bringen und sagte deshalb immer, nachdem ich an die Tür geklopft hatte: „Entschuldigen Sie, ich suche den Abteilungsleiter!” „Na, dann kommen Sie mal 'rein.” So war ich jedesmal darum herumgekommen. Doch die Aussichten für die Frau eines politischen Gefangenen waren sehr beschränkt. Die Nazis verbreiteten offiziell: „Die Betriebsarbeiter wollen mit Staatsfeinden nicht zusammenarbeiten.” Das war aber auf keinen Fall damals so, abgesehen von den Hundertprozentigen, wie ich es an den Arbeitsstellen später selbst erfuhr.
Ich wurde schließlich zur Fahnenfabrik Reineke in Mellendorf vermittelt - Hakenkreuzfahnen herstellen, Tarif 0,44 RM - das war der Landtarif für die Hannoveranerinnen. Auch ein Bild aus der Zeit des nationalen Aufstiegs! Erneut krank geworden, war ich gezwungen, meine Arbeit in Mellendorf aufzugeben. Es ging mir sehr schlecht und ich war bei einem Spezialarzt in Behandlung. Nach einem Vierteljahr, immer noch krank, bot sich mir durch Fürsprache die Möglichkeit, bei der Firma Sprengel in Hannover anzukommen. Dem Vertrauensarzt, der sich über mein schlechtes Aussehen wunderte, sagte ich etwas von „Magen verdorben”. Man hatte mir gesagt, ich solle angeben, ich lebte von meinem Mann getrennt, um keine Schwierigkeiten zu haben.
So war man gezwungen, seine nächsten Angehörigen zu verleugnen. In vier Wochen hatte ich 30 Pfund abgenommen. Das ist ja auch kein Wunder, bei einer Flasche Haferschleim und zwei Scheiben Weißbrot am Tag. Jeden Sonnabend wurde ich von Kolleginnen eingeladen, sie gaben mir Halt, um diese Zeit zu überstehen. Doch sie stellten natürlich auch viele Fragen, nach meinem Mann. Selbst eine überzeugte Nationalsozialistin nahm mich in den Arm, als ich von der Verhaftung meines Mannes erzählte und sagte: „Davon weiß Hitler nichts. Sie sperren doch nicht solche Menschen ein, wie Ihr das seid!” Ich aber erzählte ihr noch einiges mehr und fragte: „Meinst Du, das alles weiß Hitler nicht?”
Nach dem Überfall auf Polen begann auch bei uns im Betrieb die moderne Sklavenhaltung. Junge Polinnen und später Ukrainerinnen mußten bei uns die Dreckarbeit machen. Hier zeigte sich die ganze Arroganz der Rassenüberheblichkeit der Nazis, die sich in Ausdrücken wie „Polenschweine” usw. Luft machte, die die DAF-Vertreterin Koch und einige andere Gesinnungsfreunde benutzten. Zur Ehre meiner Mitarbeiter muß gesagt werden, daß nicht alle solche diskriminierenden Äußerungen benutzten. Der größte Teil der Belegschaft benahm sich menschlich, zum Teil sogar solidarisch den Verschleppten gegenüber. Das führte einmal dazu, daß die DAF-Vertreterin Koch drohte: „Wenn das so weitergeht, dann werde ich die Gestapo benachrichtigen, damit sie in diesem Betrieb mal aufräumt!”
Wir hielten aber fest zusammen und das hat sich auch bewährt.
Meine konsequente antifaschistische Haltung in der Nazizeit und im Betrieb veranlaßten meine Kollegen, mich 1945 in den Betriebsrat zu wählen. Wir bauten gemeinsam die Gewerkschaft wieder auf und ich wurde zur Delegierten der Gewerkschaft NGG (Nahrung-Genuß-Gaststätten) gewählt. Außerdem wurde ich Beisitzerin der Arbeitnehmer beim Arbeitsgericht. Bei der damaligen Gründung des Niedersächsischen Frauenrings wählte man mich auf Vorschlag einer FDP-Frau in den Vorstand. Das alles bedeutete ein volles Maß an Arbeit und Einsatzfreude, aber meine politische Überzeugung hat mir die Kraft gegeben, auch heute noch, in meinem Alter, meine Gewerkschaftsarbeit und manches zu tun, damit das Leben lebenswerter wird.