Chronik einer Familie

Berta Makowski

Leo Heinemann ist ein Mann, der in antifaschistischen Kreisen in Hannover sehr gut bekannt ist. Wer aber weiß etwas über Leos Mutter, die als Frau eines indischen Kommunisten und als Mutter von politisch verfolgten Kindern (ein Sohn wurde ermordet) ein doppelt und dreifach schweres Schicksal hatte?

Wer kennt Leos Schwester, die in der Arbeiterjugend aktiv war und als Jüdin im Nazi-Reich zu leiden hatte?

Leos Erinnerungen sind in Bezug auf seine Mutter fragmentarisch, wir suchen deshalb Berta Makowski, seine Schwester auf, um über Mutter und Tochter mehr zu erfahren.

Zu zweit treffen wir bei Berta ein. Grete Hoell, die Berta aus der VVN kennt und der sie als Generationsgleiche bekannt ist, stellt ein gutes Vertrauensverhältnis her, aber auch mir bietet Berta sofort das ‘Du’ an.

Als mir Berta in dem kleinen Flur gegenübersteht, bin ich frappiert von der Familienähnlichkeit: Größe, Gesichtsschnitt und Mimik sind mir von Leo her seit langem bekannt und selbst die Stimme ähnelt Leos Stimme sehr.

Berta fängt sofort an zu erzählen: Beim ‘Umschwung’ (der Machtübernahme Hitlers 33) fängt sie an und wir beide, Grete und ich, haben Mühe, immer das richtige Jahrzehnt, die ‘richtige’ Generation dem Erzählten zuzuordnen. Manchmal allerdings scheint mir auch Berta Fäden zusammenzuknüpfen, die nichts miteinander zu tun haben.

Sicher verliert Bertas Bericht — geordnet und von Nebenbemerkungen gereinigt, viel von seiner Unmittelbarkeit, trotzdem ist der folgende Bericht ‘geordnet und gereinigt’, anders wäre er in Teilen kaum verstehbar und in anderen Teilen einfach zu indiskret.

Die Mutter Selma Rothschild-Heinemann

Sie stammt aus einer frommen jüdischen Handwerkerfamilie. Die Eltern erziehen alle Kinder im indischen Glauben. Der Vater stellt orthopädische Schuhe her und die Familie hat ein gutes Einkommen, wenn sie auch keineswegs zu den reichen Rothschilds gehört.

Die Rothschilds wohnen im jüdischen Viertel der Stadt. Politisch werden sie ‘demokratisch’1 gewählt haben, vermuten die Enkel Berta und Leo heute. Selma Rothschild, Bertas und Leos Mutter, wird 1870 in Hamburg geboren. Während sie noch sehr klein ist, stirbt ihr Vater an Lungenentzündung. Selmas Mutter vermag ihre fünf Kinder nicht allein großzuziehen und gibt Selma, die Jüngste, in ein jüdisches Waisenhaus, während sie selbst als Frisöse im Opernhaus beschäftigt ist.

Berta erzählt:

„Meine Mutter hat im Waisenhaus sehr viel Pech gehabt. Eine Bettnachbarin stahl und stellte das so geschickt an, daß meine Mutter verdächtigt wurde. Sie durfte deshalb dann am Wochenende nicht nach Haus. Meine Großmutter hatte alle Erziehungsrechte an das Waisenhaus abgeben müssen.

Während also meine Oma unten spazieren ging und wartete, hat sich meine Mutter ans Fenster gestellt und gerufen: ‘Mama, Mama, der liebe Gott bringt es doch an den Tag! Ich habe nicht gestohlen.’ Da ist meine Großmutter hoch und hat gesagt: ‘Auch wenn ich unterschrieben habe, daß ich mich um die Erziehung nicht kümmere: So und so sieht das aus. Meine Tochter stiehlt nicht!’ Und dann ist der wahre Sachverhalt schließlich herausgekommen.

Meine Mutter hatte eine gute Schulbildung. Die Mädels vom Waisenhaus sind alle zu einer jüdischen höheren Schule gegangen.

Genauer an die Schule kann sich Berta aber nicht erinnern. Mit 16 Jahren kommt Selma Rothschild zu ihrer Mutter zurück und lernt Namensstickerin.

„Das hat sie zu Hause gemacht, weil sie dann bei ihrer Mutter bleiben konnte. Hier von Hannover, ‘von der Linde’, haben sie auch Sachen gebracht. Und am Ende des Monats brachten sie ihr dann ihr Gehalt. Sie brauchte zu den Geschäften gar nicht direkt hin.

Dadurch hat sie auch meinen Vater kennengelernt. Weil es zu Hause so dunkel war — sie hatten nur Petroleumlicht zu Hause — ging sie immer zu einer Nachbarin zum Sticken, die hatte elektrisches Licht. Mit dem Nachbarn hatte der Opa früher Karten gespielt. In der Familie war mal ein junger Mann aus Elberfeld und so lernte sie ihn kennen. Sonst kam meine Mutter nirgendwo hin, sie war immer nur mit ihrer Mutter zusammen.”

In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts heiratet Selma. Sally, ihr Mann, ist Schneidermeister. Als Schneidergeselle war er durchs Land gezogen. Die Erfahrungen der Wanderjahre hatten seine politische Entwicklung beeinflußt, sein Klassenbewußtsein herausgebildet. Von seiner streng jüdischen Erziehung machte er sich während dieser Zeit ebenfalls frei.

Ob die Mutter — vielleicht auch schon in ihrer Jugend — politisch interessiert gewesen sei, frage ich Berta. „Nein”, antwortet sie.

„Meine Mutter hat sich um gar nichts gekümmert. Als junges Mädchen nicht und später wohl auch nicht. Sagte zu den Genossen ‘Guten Tag!’ — sonst nichts. Aber mein Vater, der war politisch eingestellt, der war Kommunist. Ganz früher als junger Bengel war er wohl Sozialdemokrat. Nachher ist er dann Kommunist geworden. Warum?

Ob das mit meinen Brüdern zusammenhing? Nein — er war schon vorher Kommunist. Vielleicht nur sympathisierend. Eingetreten ist er dann wohl erst später.”

Wir bieten ihr als Erklärung für die politische Entwicklung des Vaters die allgemeine politische Entwicklung an: SPD — USPD — KPD. Möglich, meint sie, aber Genaueres weiß sie nicht.

Das Leben der Familie Heinemann

Zunächst wohnt die Familie noch in Hamburg, mit der Großmutter zusammen. Die Großmutter macht noch jüdische Einflüsse geltend, die aber nach ihrem Tod sofort verschwinden: „Als meine Großmutter gestorben ist, hat mein Vater gesagt: ‘Jetzt aber Schinken ins Haus.‘”

Auch hier, die dominierende Person: der Vater. Die Meinung der Mutter scheint keine Rolle zu spielen.

Hängt das Ablösen von jüdischen Normen und Lebensweisen mit einem anderen politischen Bewußtsein des Vaters zusammen?

„Mein Vater war Kommunist, Mensch!”, antwortet Berta mit einem leichten Unterton in der Stimme: ‘Ist doch wohl klar!’ Und entsprechend wird auch die Mutter vom Vater politisch ‘erzogen’, so daß sie zunächst sozialdemokratisch, dann kommunistisch wählt. 1913/14, kurz vor dem Krieg, zieht die Familie Heinemann nach Hannover. Die Hamburger Zeit der Familie kennen Berta und Leo beide nur aus Erzählungen. Sie wissen, daß die Mutter selbstverständlich Hausfrau wurde. Es ist so selbstverständlich, daß es ohne Nachfrage gar nicht erwähnt wird.

Weil die Mutter Epileptikerin ist, sie hat dieses Leiden, seit sie, mit Berta schwanger, die Treppe heruntergefallen war, muß Berta im Haushalt helfen. Die Jungs? Nein, die hatten ja immer was anderes vor! Die Mutter kocht, die Tochter hilft Gemüse putzen ‘und was so rundherum anfällt’. Und es fällt wahrscheinlich einiges an. Denn die Familie Heinemann in der Kramerstraße 21 in Hannover wird in Genossenkreisen ‘Herberge zur Heimat’ genannt, wie Berta mit Stolz in der Stimme erzählt. Es sind immer Genossen zu Besuch. Vor allem die, die in Hannover übernachten wollen. Abends werden Arbeiterlieder gesungen, daß es über den ganzen Hof schallt. Kommunistische Betätigung umfaßt die ganze Familie und alle Lebensbereiche: politische Aktionen, Kinderbetreuung, Freizeit, Familienleben, Freundeskreis. Nur die vorgegebenen Familienstrukturen scheinen erstaunlich wenig dadurch angeknackst zu sein.

Die Familie umfaßt inzwischen: Vater, Mutter, Kurt (geb. 1905), Leo (geb. 1909) und Berta (geb. 1910). Über die politisch/sozialen Aktivitäten im Rahmen der Zugehörigkeit zur KPD erzählt Berta:

„Die ganze Familie wurde sehr gern gesehen. Bei den Genossen hießen wir ‘Judenmädel 1’ und ‘Judenjunge 1’ (Kurt) und ‘Judenjunge 2’ (Leo) — wenn ihnen mal der Name nicht so schnell einfiel.

Mein Vater hat die ‘Rote Hilfe’2 in Hannover geleitet. Ich bin dann immer sammeln gegangen. In der Altstadt auch bei den Juden — mit der Milchkanne. Und dann wurden Brötchen gekauft und Butter, die Frauen haben geschmiert — und dann in die Eilenriede rein zu einem Platz, wo wir immer hingegangen sind.

Wenn's ans Sammeln ging, dann war ich immer die Erste. Auch zu Juden, die nicht Kommunisten waren, gingen wir. ‘Heinemann, du Kommunist, komm mal rüber, ich will wieder was geben’, rief einer immer. Meine Mutter ist immer mitgegangen — zu kommunistischen Vergnügungen und alles, aber selbst aktiv ist sie nie gewesen.”

Berta ist durch ihre Brüder, aber auch den Vater, interessiert worden, als Kind bereits, mit 12/13 Jahren, Mitte der 20er Jahre nimmt sie am politisch/sozialen Leben teil. Trotzdem, diskutiert wurde nur unter den Männern.

„Mein Vater und die Jungs, ja, die haben viel geredet. Die Frauen hat er immer in die Küche geschickt.” Doch trotz starker häuslicher Belastung und obwohl aus dem Diskussionsprozeß weitgehend ausgeschlossen, sagt Berta:

„Aber darum war ich doch immer dabei. ‘Dabeisein’ heißt für Berta vor allem am sozialen Leben der Arbeiterjugend teilnehmen. Sie ist Mitglied der Naturfreundejugend und wird von ihren Brüdern zu Treffen des KJVD (Kommunistischer Jugendverband Deutschlands) mitgenommen Sie hört sich politische Vorträge an und macht Wanderungen und Volkstanzveranstaltungen mit. Aktiv an Diskussionen nimmt sie nicht teil, auch Flugblätterschreiben und ähnliches überläßt sie anderen: „Ich streite mich nicht gerne. Auch heute noch nicht.”

Aber Sammeln für die „Rote Hilfe” und Plakatekleben, das macht ihr Spaß. Vor allem mit Leo, ihrem Bruder, und politischen Freunden klebt sie Plakate.

„Ich mußte ja immer meiner Mutter im Haushalt helfen. Plakatekleben und sowas mußten wir dann abends machen. Da haben wir uns dann immer rausgeschlichen, der Leo und ich. Das hat die Mutter gar nicht gemerkt.

Auf Leos Schultern habe ich gestanden und geklebt. Leo hat das alles vergessen.”

Leichte Kritik klingt an. So, wie das Verhältnis von Vater und Mutter eindeutig strukturiert ist, ist es das wohl auch unter den Geschwistern: Während Leo und Berta kleben, übernimmt Kurt den ideologischen Teil:

„Kurt, der hat immer Propaganda gemacht. Der hatte ja Köpfchen. Der konnte Reden schwingen, der war ganz groß!”

Die 'Arbeitsteilung' im Hause Heinemann sah vermutlich so aus: Die Männer geben den Ton an — sie diskutieren. Dabei ist Kurt der führende Kopf, die Rolle von Leo und Vater wird von Berta und Leo unterschiedlich eingeschätzt.

Die Mutter macht die Hausarbeit und hilft in der Schneiderwerkstatt und entlastet dadurch die politische Arbeit der Männer. Berta muß zwar wiederum die Mutter entlasten, spielt aber im politischen Leben eine eigenständige Rolle — wenn auch eher in Hinsicht auf praktische Kleinarbeit und Teilnahme am sozialen Leben.

Einmal oder zweimal in der Woche gehen Berta und ihre Brüder ins ‘Bella Vista’3, ‘Bella Wuppdich’, wie Berta sagt. Hier lernt Berta bei einer Volkstanzveranstaltung mit 16½ Jahren ihren späteren Mann, Heini kennen.

Verfolgung der Männer — Sorgen der Frauen

Bis zu ihrer Heirat am 30. November 1929 — Berta ist 19 Jahre alt — ist Berta politisch aktiv, dann lassen ihr ihre weiblichen Pflichten keine Zeit mehr. Da das Haushaltsgeld sehr knapp ist, verdient sie sich in der Schneiderei ihres Vaters ein kleines Zubrot. Sie hat zwar einen Beruf erlernt: in einem jüdischen Kindergarten hatte sie ihre Ausbildung als Kindergärtnerin (einschließlich Säuglingspflege) abgeschlossen — was für Mädchen in der damaligen Zeit sicher schon eine Menge war — bleibt aber anschließend trotzdem zu Hause, um der Mutter zu helfen. Als junges Mädchen führt sie nachmittags privat ein Kind aus. Und so ohne Papiere arbeitet sie vor und nach ihrer Heirat sporadisch. Für eine gute Altersversorgung natürlich schlecht!

Das erste Kind wird bald geboren — „von der Verlobung war es hängengeblieben”, sagt Berta. Das Kind wird „in Stücken geboren”, es ist tot, aber 1 1/3 Jahre später wird die älteste Tochter Ursel geboren (1931).

Während Berta jung verheiratet ist, spitzt sich die wirtschaftliche und politische Situation in Deutschland immer mehr zu: Weltwirtschaftskrise, Erstarken des Faschismus. Doch für politische Arbeit hat Berta keine Zeit mehr. Außer der Betreuung der eigenen Familie bleibt die Hilfe für die Mutter:

Als der Umschwung gekommen ist (die Machtübernahme der Nazis '33), da bin ich zu meiner Mutter hingegangen — jeden Tag. Ich habe meine Tochter Ursel in die Karre gepackt und los. Komme ich eines Tages nach der Neuen Straße — ich wohnte im Engelbosteler Damm — liegt meine Mutter in Krämpfen. Die Gestapo hatte meinen Vater weggeholt. Meine Mutter war Epileptikerin, das hatte sie, seit sie während der Schwangerschaft mit mir die Treppe runtergefallen war. Während meine Mutter in Krämpfen lag, hat die Gestapo ihr die Brillanten weggeholt. Sie war ja eine geborene Rothschild und für so'n Klimbim war sie immer.”

Berta läuft mit ihrem Kind in das Schuhgeschäft Salamander, wo ihr Mann arbeitet und sagt zu ihm: „Ich kann nicht nach Hause kommen. Ich bleibe bei meiner Mutter, bis Vater zurückkommt.”

Zum Glück wird der Vater am nächsten Tag wieder entlassen. Daß auch Leo am selben Tag bei einer Großrazzia verhaftet und keineswegs wieder entlassen wurde, (23. Juni 33), sondern seinen Leidensweg durch verschiedene Lager antreten muß, scheint die Familie zunächst nicht erfahren zu haben. Offenbar war der Kontakt, bedingt durch die politische Lage und die illegale Arbeit der Söhne, schon recht locker.

Die Verhaftung des Vaters hat für die Familie Signalfunktion. Der Vater sagt: „Für mich wird's Zeit, ehe ich mich totschlagen lasse!” Die Eltern Heinemann, Berta und deren Tochter Ursel fahren 1934 mit dem Zug nach Saarbrücken und melden sich dort beim Jüdischen Komitee. Die Einrichtung der Schneiderwerkstatt hat der Vater vorher verschenkt, an Genossen.

Heinrich, Bertas Mann, will nicht mit nach Paris. Er bleibt in Hannover.

Das Jüdische Komitee in Saarbrücken stellt den Flüchtlingen ein Visum mit dem Status eines ‘Deutschen Flüchtlings, Zusatz Jüdisch’ aus, schleust sie nach Paris und richtet ihnen dort später eine Schneiderei ein. Die Mutter kann noch etwas Schulfranzösisch — sie hatte ja eine ‘gute Schulbildung’, wie Berta betont — und so richtet sich die Familie dort ein.

In Paris erfährt die Familie dann, ‘Hans’, das ist Leos Deckname, sei tot. Das stimmt nicht. Leo war nach 18 Tagen ununterbrochener Verhöre und Folterungen zwar bewußtlos zusammengebrochen, aber ein Gefängnisarzt päppelte ihn wieder auf und nach einem Aufenthalt in den KZs Moringen und Oranienburg wird er wider alle Erwartungen am Neujahrstag 1934 entlassen.

Es gelingt ihm, über Holland nach Paris zu flüchten und so steht er eines Tages vor dem Haus, in dem die Familie Heinemann wohnt:

„Meine Mutter hatte Krämpfe, ein paar Tage lang, als Sie von Leos angeblichem Tod erfuhr. Deshalb mußte seine Ankunft in Paris ihr schonend beigebracht werden.”

Es ist der 9. Januar 34, Leos Geburtstag. Der Bistro-Wirt, in dessen Haus die Familie Heinemann wohnt, hält Leo zurück und ruft zunächst die Schwägerin. Diese kommt und weinend sagt sie: ‘Wir müssen Mutti Deine Ankunft vorsichtig beibringen, sonst bekommt sie ihre Krämpfe.’

Der Schmerz der Mutter über den lange vermißten Sohn, der erst im Moment der Erleichterung richtig hervorbricht und wehtun kann! Als Leo seine Mutter sieht, trägt sie Schwarz aus Trauer über ihn, den sie tot glaubt.

Im übrigen scheint die Mutter in Frankreich ein abgeschiedenes Leben geführt zu haben. Von den politischen Wirren und den entsprechenden Widerstandstätigkeiten der Söhne hat sie nicht viel mitbekommen.

Bei der Ankunft in Paris ist sie 64 — bei Kriegsausbruch 68 Jahre alt, eine robuste Gesundheit hat sie nie gehabt.

Noch einmal müssen die Heinemanns flüchten: Bevor die Deutschen Paris erobern, geht die Familie nach Lyon. Der Vater stirbt in Gurs an der spanischen Grenze im KZ. Inzwischen sind sowohl Leo als auch Kurt in Frankreich bei der französischen Resistance aktiv. 1939 wird Kurt in Marsailles bei einer französischen Razzia (man versucht den Schwarzhandel zu unterbinden) verhaftet, interniert und schließlich nach Polen gebracht, wo er mit Flammenwerfern von den Nazis umgebracht wird.

Auf Bitten ihres Mannes kehrt Berta 1936 oder 1937 nach Deutschland zurück. Die Mutter bleibt bei der Schwiegertochter, Kurts Frau. Von dieser erfährt Berta auch gegen Kriegsende vom Tod der Mutter. Am 26. Januar 1945 ist sie in einem jüdischen Krankenhaus ‘eingeschlafen’. Berta hat, nunmehr selbst eine alte Frau, noch heute ein schlechtes Gewissen, ihre Mutter allein gelassen zu haben.

Die Gestapo hat die Mutter aus ihrer Wohnung geholt, die Wohnung leergeräumt und die alte Frau in ein jüdisches Altersheim gebracht. Sie sei ‘anständig’ behandelt worden, berichten Nachbarn. Doch wer weiß, was in der Wohnung der alten Frau, unter Ausschluß der Öffentlichkeit vor sich ging?

Nur die Schwägerin hat die alte Mutter im jüdischen Krankenhaus gesehen. Der hat sie ihre Verletzungen gezeigt.

„Sie hat immer ihre Bettdecke hochgehoben und ‘Gestapo’ gesagt und die blauen, schwarzen und gelben Flecken gezeigt: ‘Ich tu doch keinem Menschen was. Warum kommt denn die Berta nicht.’”

Aber Berta weiß nichts vom Leid ihrer Mutter und sie könnte auch gar nicht zu ihr kommen: Die nahende Niederlage macht die Verfolgungswut der Nazis eher größer.

Wieder in Hannover

Ich bin etwas verwundert darüber, daß Berta, obwohl Jüdin und als Junges Mädchen im KJVD aktiv und gleichzeitig Familienangehörige von verfolgten Antifaschisten, während des Krieges zu ihrem Mann nach Deutschland zurückkehrt.

Zwar sind 1936/37 die Judenverfolgungen noch nicht auf ihrem Höhepunkt, aber ein Risiko geht Berta bestimmt ein. In ihrer Schilderung wird Angst oder Sorge vor Verfolgung aber nicht oder nur ganz ansatzweise spürbar. Mit ihrer Tochter Ursel fährt Berta nach Hannover. Ihr Mann Heini hat sie gebeten, zu ihm zurückzukommen. Aber auch Reibereien mit ihrem Bruder Leo in Paris nennt Berta als Grund. Mit tränenerstickter Stimme erinnert sich Berta an die Fahrt nach Deutschland mit der Eisenbahn. Es ist Weihnachten, Tochter Ursel wünscht sich so sehr einen Weihnachtsbaum, doch Berta kann den Wunsch nicht erfüllen.

Ein — lebensnotwendiges — Abstumpfen gegen Brutalität und ein Durchbrechen an ‘ungeschützten’ Stellen?

Als Berta etwa ein Jahr in Hannover ist — 1938 — wird ihre zweite Tochter Inge geboren.

Folgende Episode spielt sich in den folgenden Jahren ab, Inge ist noch ein Baby:

Bei Vier Grenzen (an der Podbielskistraße) stehen vor einem Gemüsegeschäft die Leute Schlange. Berta erkundigt sich, was es Besonderes gibt, schönes Gemüse vielleicht? „Kartoffeln gibt es hier ohne Eintragung.” Und Berta darauf: „Ach du armes Deutschland. Kartoffeln gibt es hier ohne Eintragung. Und dafür stehn Sie hier Schlange!”

Jemand kommt, klopft ihr auf die Schultern: „Gestapo”. Eine Frau: „Zeigen Sie mal Ihre Karte!” und als Berta ihre Karte mit dem Judenvermerk zeigt, sagt die Frau spitz: „Auch das noch!”

Ein halbes Jahr lang muß Berta antreten, morgens um 9 Uhr in der Schlägerstraße, und sagen „Deutschland hat alles! Deutschland ist reich!” Sie macht ihrem Kind vorher die Flasche, weil sie sie gewöhnlich endlos warten lassen. Ihr Mann rät ihr, mit dem Hitlergruß einzutreten. Sie tut es und wird angefahren: „Was, Du Judenschwein, Du willst den Führer beleidigen?” Und sofort bekommt sie Schläge, mit dem Kind auf dem Arm. Schikane? Wäre sie ebenso behandelt worden, wenn sie 'Guten morgen' gesagt hätte, weil sie den ‘Deutschen Gruß’ verweigerte?

In den KZs mußten die Judenfrauen mit ‘Heil Hitler’ grüßen und später durften sie nicht mehr. Sie waren nicht ‘würdig’.

Doch obwohl Berta auf Bitten ihres Mannes nach Deutschland zurückgekommen ist, gibt es zunehmend Spannungen in der Ehe. Allerdings darf bei all diesen Spannungen der äußere politische Druck nicht vergessen werden. Heini wird unter Druck gesetzt, sich von seiner Frau zu trennen, weil sie Jüdin ist. Er selbst ist inzwischen Hilfspolizist und man droht, ihn zu entlassen. Mindestens aber wird er nicht aufsteigen können. Diesem Druck hält Heini lange stand. Und irgendwann hat dann wohl der Druck von außen die brüchigen Stellen der Beziehung vergrößert und sie schließlich völlig gesprengt.

1941 werden Berta und Heini geschieden.

Wieviel schwerer zu erfassen als die äußeren brutalen Erscheinungsformen des Faschismus sind die Wirkungen, die der Faschismus auf die Integrität der Menschen, auf ihr Menschsein und ihre gegenseitige Liebe hat?

Nach der Scheidung wird es für Berta im ‘germanischen’ Deutschland immer schwerer. Nun, wo sie alleinstehende Jüdin und nicht einmal mehr mit meinem ‘Arier’ verheiratet ist, wird ihr die Fürsorge auf den Hals geschickt.

Jedoch muß die Fürsorge, ‘Mutter und Kind’ heißt sie, zugeben, daß die Vorwürfe, sie vernachlässige ihre Kinder, haltlos sind: Die Kinder sind ordentlich und gepflegt, die Wäsche ist gebügelt und liegt mit Schleifchen gebündelt im Schrank!

Berta ist nicht mehr Mitglied der jüdischen Glaubensgemeinschaft. Mit sechzehneinhalb ist sie ausgetreten, wie übrigens alle anderen Familienmitglieder auch. Rassisch allerdings gehört sie nach Nazi-Vorstellungen nach wie vor zu den Juden, ist sie ‘Volljüdin’. Einen Judenstern braucht Berta allerdings nicht zu tragen, weil sie von einem ‘Arier’ zwei Kinder hat. Das hat sie geschätzt — trotz allem.

Aber in der Öffentlichkeit muss sie sich vorsehen. Deshalb harkt sie morgens um 5 Uhr ihren Vorgarten, um Nachbarn und der übrigen Öffentlichkeit keinen Anlaß zu negativen Äußerungen zu geben. Als Alleinversorgerin für ihre beiden Kinder bekommt sie je 20 RM von der Militärversorgung, weil Heini inzwischen als Soldat eingezogen ist. In der Paulstr. 1, ihrer Wohnung, ist es aufgrund der knappen Unterstützung oft kalt.

Um ein bißchen besser leben zu können, nimmt Berta schließlich doch Gelegenheitsarbeiten an. Als sie bei Förster arbeitet, passiert folgendes:

„Eine aus der Kommunistischen Jugend hatte einen Nazi geheiratet. Der war Vorarbeiter, Meister oder so bei Förster in der Schusterei auf dem Engelbosteler Damm.

Die Frau, die ich aus dem KJ kannte, hatte mir 1940 da eine Stelle besorgt. Vor dem Vorarbeiter hatte mich ein anderer Arbeiter, ein SPD-Mann, gewarnt: ‘Du, sei vorsichtig, das ist 'n strammer Nazi!’ Und der sagte dann auch immer zu mir: ‘Wenn Du nicht mehr arbeitest, dann muß ich Dich der Gestapo übergeben! Du paßt hier gar nicht rein, unter Ariern!’ So hat er gedroht — dieses Schwein! Die Arbeit war sehr schwer für mich. Beim Galoschenmachen mußte ich Männerarbeit machen — so 'n dicker Lederriemen mußte abgeschnitten werden. Davon sind meine Finger kaputtgegangen. Und dann habe ich Pflaster draufgemacht — es durfte ja kein Blut an die Galoschen kommen.”

Etwa ab 42/43 arbeitet Berta dann bei König und Ebhardt, einer Druckerei, als Paginiererin. Der Meister dort hat einen Holzkasten um sie herum gebaut, damit sie nicht unter ‘deutschen Volksgenossen’ sitzt.

Dort hat sie die Gestapo dann irgendwann herausgeholt, weil sie sich trotz dreifacher Aufforderung zur Dienstverpflichtung nicht gemeldet hat.

Sie muß in der KZ-Außenstelle Ahlem arbeiten, kann aber weiterhin zu Hause wohnen. Auch hier schützt sie wieder die Tatsache, daß sie zwei Kinder von einem ‘Arier’ hat.

In Ahlem muß sie zunächst Gartenarbeit machen. Weil sie immer ‘schlapp’ macht, kommt sie in die Küche zum Schälen und Putzen. Ihre Kinder kommen mit nach Ahlem.

Die älteste Tochter geht bereits zur Schule und kommt anschließend ins Lager. Die 7 Jahre jüngere Inge wird von einem evangelischen Kindergarten nicht aufgenommen, sie ist eine ‘Judennanze’ und muß mit der Mutter mit. Sie sitzt im Lager auf der Bank und sieht der Mutter bei der Arbeit zu.

Später kann Berta sie in einem katholischen Kindergarten unterbringen.

Während der Gartenarbeit in Ahlem passiert folgendes:

Ein 74 Jahre alter Mann nimmt sich einen Apfel. Es ist sehr heiß, der Mann ist völlig ausgedurstet. Berta versucht ihn zu warnen. Reden dürfen sie nicht. Sie hält die Hand vor den Mund, als ob ihre Nase juckt und raunt dem Mann zu: „Er guckt. Laß das sein!”

Doch dem alten Mann ist alles gleichgültig. Ein SS-Mann, der das sieht, nimmt den alten Mann an den Beinen, hält ihn, wie man ein Baby wickelt und schlägt ihn mit dem Kopf immer wieder auf den Boden, daß das Gehirn herausspritzt. Berta denkt: ‘Hoffentlich wirst du nicht ohnmächtig!’. Sie weiß und der SS-Mann sagt es auch: „Siehste, guck mal genau zu! Wenn Du jetzt umkippst, bist Du die Nächste. Dann kommst Du auch an die Reihe!” Und niemand außer Berta ist anwesend. Sie hat schreckliche Angst. Wie sollte sie sich allein gegen einen starken SS-Mann wehren? Im weiteren Bericht über Ahlem wird deutlich, wie der politische Riß, politische Gegnerschaft quer durch Familien geht: Die Frau des SS-Mannes gibt sich Berta gegenüber als kommunistisch eingestellt zu erkennen. Sie hilft Berta und versucht sich schützend vor die Juden zu stellen. Doch der Mann sagt zu ihr: „Wenn Du nicht still bist, bring ich Dich auch ins KZ!” Mit dieser Frau, die mit ihrem Mann und zwei Kindern im Angestelltenkomplex des Lagers wohnt, tauscht Berta heimlich Bohnerwachspaste — von Bekannten geschenkt bekommen — gegen Wurst für ihre Kinder.

Auf Empfehlung von Bekannten geht Berta schließlich zu einer Ärztin nach Burgdorf, bekannt als SPD-lerin. „Geh zu der, die holt Dich raus!”, hat man ihr gesagt. Berta ist schwer herzkrank und die Ärztin hat noch etwas dazugemogelt, indem Bertas Herz durch Kniebeugen und Anstrengung hochgejagd wird. Die unter diesen Bedingungen gemachte Röntgenaufnahme reicht der Gestapo — Berta kann gehen. Nach ihrer Entlassung schlägt sich Berta mit Näharbeiten durch.

Am 1. Februar 1945 soll Berta nochmal weg, nach Theresienstadt. Da hat zunächst Lieschen Kreikbaum, dann haben viele andere Genossen sie aufgenommen.

„Ich war mal bei dem, mal bei dem untergebracht. Und so ist mir nicht passiert, was Menne Abraham am Ende doch noch passiert ist. Sie haben ihn noch nach Theresienstadt in die Gaskammer gebracht. Meine Kinder sollten schon ins Heim.

Menne Abraham war blind, er war Kriegssoldat, bei der Marine im 1. Weltkrieg. Seine Mutter war jüdische Totenfrau, Vaters Halbschwester. Ein 19-jähriger aus der Jüdischen Gemeinde hat ihm immer Essen geholt. Er wohnte in der Knochenhauerstraße, in den 60-ern. Ich hab ihm auch immer was geholt, ohne daß mein Mann das wußte. Er hat dann immer zu mir gesagt: 'Peppi, das heißt Püppchen, Peppi, wenn sie dich sehen, dann holen sie dich auch. So gerne wie ich 's esse. Aber bring mir nichts mehr!'

Er ist erst nach Theresienstadt gekommen, dann nach Auschwitz.”

Wir fragen nach ihren anderen Anverwandten.

„Alle Onkel und Tanten von Elberfeld von Vaters Seite aus sind ins KZ gekommen. Ich habe nie wieder was von ihnen gehört.”

Auf unsere Zwischenfrage, ob sie dort umgebracht worden seien, sagt sie mit gleichmütiger Stimme nur: „Wer'n sie wohl.”

Von mütterlicher Seite sind einige Verwandte nach England ausgewandert.

Berta weiß heute von keinen Verwandten mehr.

Heute, mit ihren 72 Jahren, ist Berta froh, daß sie sich mit ihrem zweiten Mann gut versteht. Er muß viel für sie tun, da sie fast blind ist und ihr Herz ihr auch zu schaffen macht.

Sie bekommt 84 DM Erwerbsunfähigkeitsrente, leider kann sie sich an all ihre Arbeitsstellen nicht erinnern und hat sie auch bei der Rentenstelle nicht angeben können.

Die heutige politische Entwicklung macht ihr Angst, sie möchte aber möglichst nichts damit zu tun haben:

„Das erinnert mich alles an früher. Und dann träume ich immer davon. Alles durcheinander. Von heute, von früher. Und das kann ich nicht ertragen. Ich mag nichts sehen und nichts hören. Das erinnert mich viel zu viel an meinen Kram, an mein Leben.”

Gemeint ist die Deutsche Demokratische Partei (DDP), zu der auch Rathenau gehörte.

Vermutlich ist hier die Internationale Arbeiterhilfe (IAH) gemeint. Für Angehörige von Verhafteten wurde gesammelt, für Kinder wurden Spielnachmittage organisiert, ihnen etwas zu essen gemacht usw.
Vgl. Heft 4 der vorliegenden Reihe.

Im Bella Vista, einem städtischen Jugendheim oder -zentrum, standen Gruppen Räume für ihre politisch-sozialen Treffs zur Verfügung.
Vgl. Artikel zu Bella Vista in dieser Broschüre.