Das ehemalige Gerichtsgefängnis Hannover 1933 - 1945

VI. Plädoyer für das Mahnmal Gerichtsgefängnis

Rechtsanwalt Dr. Werner Holtfort (SPD)

Denkmäler und Mahnmale hat Hannover in großer Zahl: Bildnisse, Inschriften, Schulnamen und Straßenbezeichnungen, Statuen (zum Beispiel am Künstlerhaus), Rundtempel (das Erinnerungsmal an Leibnitz mit seiner Porträtbüste). Sie halten Erinnerungen wach - ganz überwiegend an Monarchen (Georgstraße, Ernst-August-Denkmal, Kaiser-Wilhelm-Gymnasium, an deren militärische, imperialistische oder politische Paladine (Bismarck, Hindenburg, Graf Waldersee) oder ihre Soldaten (Dragoner, Husaren, Ulanen). Straßen gemahnen an Haudegen zu Lande (p. E. Blücher), zu Wasser (z. B. Kapitän von Müller) und zur Luft (etwa Boelcke) oder auch an blutige Schlachten: Waterloo, Möckern, Mars-la-Tour. Die "glorreiche" Zeit des Kolonialismus wird uns vor Augen geführt, sobald wir die Ost-Afrika-Straße oder den Kamerun-Weg queren, Wege und Plätze sind nach ihren "Helden" benannt: Lettow-Vorbeck, Woermann und - ein besonders abstoßender und brutaler "Kolonialpionier" - Carl Peters.

Jeder kann die Beispiele vielfach vermehren. Ich wünschte, der Rat der Stadt würde hier Remedur schaffen und einen beträchtlichen Teil der Namen in den Orkus der Geschichte fallen lassen. Hingegen plädiere ich für Errichtung des von dem hannoverschen Bildhauer Hans-Jürgen Breuste geschaffenen Mahnmals an das inzwischen abgerissene Gerichtsgefängnis in der Leonhardtstraße. Die diesen Gedanken initiiert und in die Tat umgesetzt haben, verdienen unseren Dank. Um ihrer Idee zur Ausführung zu verhelfen, haben die Sozialdemokraten der Landeshauptstadt durch ihre Delegierten auf ihrem Parteitag vom 23./24.Mai 1987 beschlossen:

"Der SPD-Unterbezirk Hannover-Stadt unterstützt die sofortige Aufstellung des Mahnmals Gerichtsgefängnis auf dem Gelände des ehemaligen Gerichtsgefängnisses. Auf dem Mahnmal sind die Namen ehemals Inhaftierter, darunter Thälmann, anzubringen."

Warum plädiere ich für dieses Mahnmal? Aus zwei Gründen: Es gilt einmal die Erniedrigten und Gequälten zu ehren, die im Gerichtsgefängnis Leonhardtstraße aus politischen Motiven eingesperrt waren. Es gilt aber auch, uns und unsere Nachfahren durch ein dauerndes Monument zu mahnen, damit nie wieder Menschen politisch verfolgt werden!

In der Leonhardtstraße wurden Mitmenschen gefangen gehalten, weil sie sich den Nazis widersetzten oder unliebsame Wahrheiten über sie verbreitet oder auch nur ausländische Rundfunksender gehört hatten, gar nur fremdartig waren oder Gott in einer den Nazis unverständlichen Weise verehrten. Aus dem während des Krieges besetzten Auslande hierher zur Zwangsarbeit verschleppte Personen kamen hier - oft wegen Bagatellen - in Untersuchungshaft, soweit der Gestapo daran lag, sie in einem öffentlichen Strafprozeß zu Objekten der Abschreckung für andere zu machen.

Das Haus inder Leonhardtstraße war eine Einrichtung nicht etwa der Polizei oder des Geheimdienstes, sondern der "ordentlichen" Strafjustiz. Fast alle ihre Richter und Staatsanwälte, obschon sie überwiegend der Rechtspflege der Weimarer Republik entstammten, haben mitgeholfen, aus den Strafgerichten eine pervertierte, brutale Exekutive des Terrorregimes zu machen. Der Reichsjustizminister Thierack forderte in der Chefpräsidenten-Konferenz am 29. September 1942 die Richter und Staatsanwälte auf, "barbarisch hart" zu verurteilen. Und die meisten taten es. Die Todesstrafe etwa erlitt (Beispiele aus den "Richterbriefen", die der Reichsminister der Justiz in den Jahren 1942 bis 1944 zwecks Lenkung richterlicher Entscheidungsfindung versandte), wer eine Soldatenfrau verleumdet hatte, wer eine gefundene Pferdeleine unterschlug, wer als Pole im Streit einen Deutschen schlug, wer, nachdem er aus einem brennenden Haus tatkräftig die Habe der Bewohner gerettet hatte, davon eine Kiste Brasil-Zigarren an sich nahm.

Manche Richter suchten ihren Herrn und Meister zu übertreffen, so daß mitunter der Minister in den "Richterbriefen" auch Gerichte tadelte, weil ihre Todesurteile zu weit gegangen seien!

Polizei, Geheime Staatspolizei, Richter und Staatsanwälte wüteten so bis 1945. Dann wurde die Geheimpolizei im Nürnberger Urteil zur verbrecherischen Organisation erklärt - heute würde man von krimineller oder terroristischer Vereinigung (§§ 129, 129a StGB) sprechen. Ihre Angehörigen tauchten unter, einige wurden für ihre Untaten verurteilt, andere tauchten später in den Geheimdiensten der Bundesrepublik wieder auf, indessen der Macht beraubt, willkürlich gefangen zu halten oder Mitmenschen zu foltern.

Die Polizei wurde von den alliierten Militärregierungen entmilitarisiert und durch Gesetze der Bundesrepublik gezügelt. Sie ist, ebenso wie die Bediensteten unserer Geheimdienste, durch das Grundgesetz (Art. 20 Abs. 2) ausdrücklich an "Gesetz und Recht" gebunden. Gewiß schlagen einzelne ihrer Beamten immer einmal wieder über die Stränge, aber die Journalisten, Verwaltungsgerichte und Politiker der Opposition, auch viele Polizeipräsidenten, bemühen sich, das zu ahnden und den Polizeiapparat zu kontrollieren.

Ganz anders erging es der Justiz. Ihre Institutionen wurden als solche nicht angetastet, abgesehen davon, daß die Gesetze vom gröbsten Unrecht der Nazizeit gereinigt wurden. Und auch die in ihr handelnden Personen blieben zum großen Teil dieselben. Zwar blieben nicht alle sogleich, obwohl der neuernannte Präsident des Oberlandesgerichtes Celle, Dr. Freiherr von Hodenberg, sich sehr darum bemühte: Von den eingeschriebenen Mitgliedern der Nazipartei wurden "nur" die Hälfte wieder als Richter und Staatsanwälte eingestellt. (1)

Doch die anderen kamen fast alle nach kürzerer oder längerer Schamfrist hinterher. Zwar konnte man die Spitzen der Nazi-Gerichtsbarkeit nicht im Amt belassen. Sie erhielten hohe Pensionen von der Bundesrepublik, sogar für die Zeit, die sie - etwa aufgrund von Verurteilungen im von den US-Amerikanern durchgeführten Nürnberger Juristenprozeß - nach dem Untergang des Nazireiches im Gefängnis verbracht hatten.

Auch der Oberste Ankläger beim Volksgerichtshof, Herr Lautz, erhielt die Pension eines Generalstaatsanwalts. Freisler selbst konnte nichts mehr passieren, weil er den Nazi-Staat nicht überlebt hatte; die Pension bekam seine Witwe.

Ende der 50er Jahre wurde eine neue Norm in das Richtergesetz eingeführt. Danach durfte jeder Richter, der sich durch seine Unrechtsurteile im "Dritten Reich" belastet fühlte, ohne Angabe von Gründen freiwillig seinen Abschied nehmen - die dieses nutzten, mußten, wenn sie es wünschten, ohne weitere Prüfung ihrer beruflichen Vergangenheit in die Rechtsanwaltschaft aufgenommen werden. Die aber dickfällig darauf vertrauten, eine Krähe würde schon der anderen kein Auge aushacken, blieben ebenso ungehelligt; viele von ihnen hatten eine glanzvolle Juristenkarriere in der Bundesrepublik noch vor sich. (2)

Dr. Hans Puhvogel, der literarisch für die "Ausscheidung der Minderwertigen durch Tötung" eingetreten war, wurde 1967 gar Niedersächsischer Justizminister! Als der Richter Helmut Kramer Puhvogels nazistische Schrift unter Richterkollegen veröffentlichte, wurde er disziplinarisch gemaßregelt, weil er damit seinem obersten Dienstherrn die nötige Achtung versagt habe.

Marinerichter Filbinger wurde Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Zuständig für Berufsverbotsprozesse gegen Kommunisten wurden im Bundesverwaltungsgericht der ehemalige "Rassenschande"-Richter Dr. Edmund de Chapeaurouge und der weiland "Höhere SS- und Polizeiführer" in Norwegen Rudolf Weber-Lortsch. Der Berichterstatter des Senats für dessen berühmt-berüchtigten Beschluß vom 22. Mai 1975 über die Verfassungsmäßigkeit des "Radikalenerlasses" war Professor Willi Geiger, zuvor Staatsanwalt am Sondergericht Bamberg, wo er mindestens fünf Todesurteile bewirkt hatte.

Die Kontinuität war nicht nur eine personale. Diese Juristen setzten zum Teil ihre Tätigkeit einfach fort, wenngleich ohne Möglichkeit zu unmenschlichen Urteilen. Ab 1956 (Jahr des KPD-Verbotes) wurden erneut viele Kommunisten, die bereits in Nazi-Haft (vielleicht gar im Gerichtsgefängnis in der Leonhardtstraße zu Hannover) gesessen hatten, wegen ihrer politschen Betätigung zu Freiheitsstrafen verurteilt.

So konnte es passieren, daß Kommunisten beim Betreten des Gerichtssaales in Lüneburg zu ihrer Verblüffung in ihrem Ankläger den wiedererkannten, der sie schon im Nazi-Staat verfolgt hatte, den Staatsanwalt Karl Heinz Ottersbach, der sich in den 40er Jahren als besonders brutaler Strafverfolger im Dienste der Terrorherrschaft hervorgetan hatte. (3) Auch Ottersbach selbst sah offensichtlich seine Tätigkeit in der Bundesrepublik als nahtlose Fortsetzung der im Hitlerstaat an: Am 13. Mai 1960 hielt er den wegen kommunistischer Betätigung angeklagten Paul Butscheck in der Hauptverhandlung entgegen: "Aus Ihrer Inhaftierung in den Jahren 1933 bis 1945 haben Sie nichts gelernt!"

Das war keine zufällige personale Entgleisung in der Zeit der Adenauer-Restauration. Vielmehr wurde absichtlich Kontinuität zur vordemokratischen Justiz gesucht. In seiner Rede bei der Einweihung des neuen Bundesgerichtshofs in Karlsruhe am 8. Oktober 1950 beschwor Justizminister Thomas Dehler "die Erinnerung an die ausgezeichneten Leistungen des Reichsgerichtes", das in der Hitlerzeit vermeintlich schlappe (in Wahrheit oft brutale) Urteile der Instanzgerichte möglichst verschärft, gelegentlich auch selbst in Todesstrafe umgewandelt hatte. (4) "Mein Wunsch ist, daß der Geist dieses Gerichtes auch die Arbeit des Bundesgerichtshofes durchwaltet." Und in der Festschrift nannte der zuständige Beamte aus dem Bundesjustizministerium als vorrangiges Ziel der Regierung, "frühere Mitglieder des Reichsgerichts, denen seine Tradition bekannt ist, in den Bundesgerichtshof zu berufen." So geschah es und vier Jahre später erklärte der so zum Präsidenten des neuen Gerichts promovierte ehemalige Reichsgerichtsrat Hermann Weinkauff, der BGH habe "das Erbe des Reichsgerichts übernommen", wozu Justiz-Staatssekretär Wa1ter Strauß (CDU) ergänzte: "Genauso, wie unsere Bundesrepublik keine Neugründung ist, sondern die unmittelbare rechtliche Fortsetzung des Deutschen Reiches ..., so sehen wir den Bundesgerichtshof nicht nur als rechtshistorische Fortsetzung, sondern betrachten ihn als identisch mit dem Reichsgericht." (5)

So nimmt es nicht Wunder, daß kein einziger der vielen nazistischen Blutrichter von der bundesdeutschen Justiz zur Rechenschaft gezogen wurde. In der ARD-Sendung Ralph Giordanos "Der perfekte Mord" am Abend des 14. Januar 1988 wurde sogar dokumentiert, daß von bundesdeutschen Strafgerichten Denunzianten der damals Hingerichteten wegen Beihilfe zum Justizmord zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt, die Justizmörder selbst indessen von Strafe freigestellt wurden - ein wahrhaft gigantischer Justizskandal!

Doch wozu den Skandal wieder aufrühren, da doch die in ihn verwickelten inzwischen pensioniert oder pensionsreif geworden und zum Glück durch eine neue Richtergeneration ersetzt, da auch die nazistischen Blutrichter jetzt gestorben oder wenigstens vergreist sind? Inwiefern können diese freilich abscheulichen Geschichten einem Plädoyer für das Mahnmal Gerichtsgefängnis dienen? Nun, die Leonhardtstraße ist benannt nach einem Justizminister des 19. Jahrhunderts, der durch seinen zynischen Ausspruch bekannt wurde, den Richtern werde er ihre Unabhängigkeit gönnen, solange nur er über deren Personalien, insbesondere über ihre Beförderungen entscheide. Der Gefahr, die Wünsche der jeweiligen Regierung mit Gerechtigkeit zu verwechseln, kann jeder strebsame und ehrgeizige Richter erliegen, der sich nicht ständig selbst daraufhin überwacht (denn eine andere Kontrolle gibt es - eben wegen jener richterlichen Unabhängigkeit - nicht!). Auch hierfür seien lediglich zwei aus einer Vielzahl von Beispielen aufgeführt, in denen diese Gefahr akut geworden ist.

Das erste muß, um es zu verdeutlichen, zunächst ein wenig verfremdet werden. Gesetzt, jemand wird von einem Staatsanwalt verdächtigt, einen Mord begangen zu haben, und er hat kein Alibi. Indessen leugnet er, und es fehlen Spuren. Dennoch klagt man ihn an. Zwar gibt es keine Zeugen, die dem Gericht präsentiert werden können. Aber geheime Zeugen, welche die Täterschaft des Angeklagten angeblich bestätigen, behauptet der Ankläger zu haben; sie seien überaus glaubwürdig, wenn auch in einem allerdings obskuren Milieu tätig. Dem Gericht vorzeigen könne man sie zwar nicht, denn würden sie mit ihren Aussagen bekannt, so schwebten sie in Lebensgefahr. Es müsse also der Angeklagte, wenngleich besten Rufes und auch seine Unschuld beteuernd, schon ohne richterliche Vernehmung der Zeugen verurteilt werden, um deren Leben zu retten.

So etwas, wird jetzt jeder Leser ausrufen, täte kein Staatsanwalt, mindestens werde kein Gericht aus so windiger Beweiswürdigung ein Urteil bauen. Aber gemach! Zugegeben zwar für den Fall des Mordes. Aber setzt man stattdessen den der Spionage zugunsten der DDR, so ist allerdings der sozialdemokratische Parlamentarier und Arzt Dr. Friedrich Cremer am 16. Mai 1980 deswegen und aufgrund von richterlich ungeprüften Aussagen anonymer Zeugen aus der Spionage-Szene zu 2 1/2 Jahren Freiheitsstrafe vom 3. Strafsenat des Bayerischen Obersten Landesgerichts verurteilt worden. (6)

Das zweite Beispiel kennt jede Zeitungsleserin und jeder Zeitungsleser: Gewaltsame Nötigung wird durch § 240 StGB mit Kriminalstrafe bedroht, gewaltlose hingegen nicht. Im Sinne der Herrschenden macht heute so mancher unserer Richter in verdrehter Interpretation aus dem klaren Wortlaut das Gegenteil: Ein friedliches, untätiges Dasitzen von Demonstranten auf einem öffentlichen Verkehrsweg, um auf politische Gefahren aufmerksam zu machen, also gerade Gewaltlosigkeit, sei Gewalt im Sinne des Gesetzes!

Jüngere Richter ermutigen uns zu hoffen. Einige haben selbst auf die beschriebene Weise gegen die Atomrüstung demonstriert, andere durch öffentliche Erklärungen Respekt davor bezeugt, freilich zum Entsetzen und mit Mißbilligung christdemokratischer Justizminister. Wieder andere haben Freisprüche verkündet, obschon sie von ihren Ministerpräsidenten zur Verurteilung aufgefordert wurden, oder haben als Verwaltungsrichter gegen die Staatsgewalt entschieden. So beweisen viele durch Verzicht auf das Wohlwollen ihrer Dienstvorgesetzten die Unabhägigkeit vom Staat und ihre Bindung allein an Recht und Gesetz. Daneben aber gibt es noch reichlich Beflissenheit, Gehorsam und Unterwürfigkeit. Wenn dies so ist, sogar in einer Gesellschaft, in der ein Richter durch unabhängiges Richten nichts riskiert außer allenfalls den Verlust einer Beförderung, wie hätten sich diese wohl verhalten in einem auch sie bedrohenden Terrorregime?

Wir brauchen deshalb das Denkmal Gerichtsgefängnis als dauernde Mahnung auch an die Gewissen von Richtern und Staatsanwälten!

Dr. Werner Holtfort

(1) Vergleiche "Hundert Jahre Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk Celle". S. 72 (2) Vergleiche die namentliche Aufstellung einzelner solcher Laufbahnen bei Ingo Müller, "Furchtbare Juristen", München 1987, S. 210 ff (3) Einzelheiten bei Vultejus in: Hinter den Fassaden — Geschichten aus einer deutschen Stadt, Göttingen, 1982, S. 92 ff (4) Nachweise bei Ingo Müller, a.a.O. S. 138 ff (5) All diese Zitate aus Ingo Müller, a.a.O. S. 210 (6) Vergleiche Demokratie und Recht, Heft 2/1981, S. 198 ff