Das ehemalige Gerichtsgefängnis Hannover 1933 - 1945
Alltag und Lebensbedingungen im Gefängnis
2. Zum Tagesablauf
Die Haft im Gefängnis begann mit der Aufnahme: Bis auf den Ehering mußten dort sämtliche persönliche Gegenstände abgegeben werden. Sie wurden notiert, verschlossen und bei der Entlassung gegen Quittung zurückgegeben. Bei der Aufnahme stellte man außerdem — neben den Personalien und Fingerabddrücken — fest, für welche Art von Arbeit der Häftling sich eignete.
Dann fand die Einkleidung statt: Die Frauen trugen ein Trägerkleid zum Knöpfen aus derbem, blauem Baumwollstoff. Sonntags oder wenn Besuch anqesaqt war, wurde die grau-blaue Arbeitsschürze gegen eine weiße ausgetauscht und außerdem ein weißer Kragen angelegt. Diese "Accessoires" kamen übrigens auch zum Einsatz beim Gang zur "Oberin". Karierte Schultertücher und dicke Wollsocken ergänzten die Gefängnisuniform.
Die Männer trugen weite Hosen zum Binden und darüber eine Arbeitsjacke aus demselben groben Baumwollstoff. Einmal in der Woche gab es frische Wäsche.
Diese Einkleidung galt allerdings nur für Strafgefangene, d. h. also für Häftlinge, die bereits verurteilt worden waren. Die Untersuchungsgefangenen behielten ihre Zivilkleidung und wurden auch nicht zur Arbeit herangezogen. Frische Wäsche bekamen sie von "draußen", also von Angehörigen und Freunden.
Um sechs Uhr wurden die Häftlinge geweckt, mußten aufstehen, die Betten machen und sich waschen. Währenddessen sammelten Kalfaktoren die Fäkalienkübel ein. Um 7:30 Uhr gab es Frühstück: Kaffee, Brot, sowie meist nur Margarine und Marmelade.
Ab acht Uhr wurden die Häftlinge in die Werkstätten und Arbeitssäle gebracht oder verblieben in ihren Zellen. Mittagessen gab es um 12 Uhr. Nach einer kurzen Pause nahmen die zur Arbeit eingeteilten Gefangenen ihren Dienst wieder auf — bis zum Abendbrot um 18 Uhr.
Die Möglichkeiten der "Freizeitgestaltung" abends und an den Wochenenden waren äußerst dürftig. Die Hauptbeschäftigung der politischen Häftlinge, die zumeist in Einzelhaft saßen, bestand vermutlich im Lesen, wenn auch das Angebot der Gefängnisbücherei sehr beschränkt war.
Der Kirchgang Sonntags — je nach Konfession konnte der evangelische oder katholische Gottesdienst besucht werden — wurde von vielen allein schon wegen der Abwechslung im tristen Gefängnisalltag wahrgenommen. Unter den politischen Häftlingen war dieser Gang allerdings sehr umstritten. Die einen benutzten ihn, um Informationen von "draußen" auszutauschen oder um eventuell Bekannte unter den neuen Gesichtern auszumachen. Auch dabei gab es den Versuch, die politische Identität soweit wie möglich zu wahren:
"Eine interessante Sache für uns war der Kirchgang. Da konnte man sehen, wer alles da war. In der Kirche saßen wir in so 'nem Bretterverschlag und verkohlten den Pastor, das war so'n Kleiner. Damals gab es 'ne Reklame: 'Kukirol-Unblutig'. Und der Pastor, der sah aus wie 'Unblutig'.
Wenn wir singen mußten, dann sangen wir natürlich was anderes. Dann guckte der immer, wo das wohl herkam. Seine Lieder haben wir jedenfalls nicht gesungen. Wir waren da nur, um herauszufinden, wer nun inzwischen wieder angekommen war." (F. G.)
Andere waren nicht bereit, in der Frage des Kirchgangs Kompromisse einzugehen, was von Gefängniswärtern mitunter zum Anlaß für zusätzliche Schikanen benutzt wurde:
"Die Vergabe von Essenszulagen war genau geregelt. Ein Schild an der Zellentür, das immer weitergehängt wurde, zeigte an: Zulage Brot, Zulage Essen usw. Sonntag war ich an der Reihe, Gulasch sollte es geben. Ich also 'Klappe raus' — da war so'ne Fahne an der Wand, wenn man da von innen gegenklopfte, fiel die Fahne 'runter, daß hieß 'Klappe raus'.
'Warst Du beim Kirchgang?' fragte der Wärter. 'Beim evangelischen?' 'Nein.' 'Beim katho1ischen?' 'Nein.' 'Dann kriegst Du auch keine Zulage'. Da saqte ich: 'Für mich gibt es aber keine Kirche hier.' 'Was, es gibt keine Kirche? Was bist du denn?' 'Ich bin Buddhist!' 'So eine Kirche haben wir hier nicht. Gut dann kriegst Du Deine Zulage.'
Na ja, zuerst gingen wir Politischen fast alle in die Kirche. Aber dann haben wir diskutiert, und nach 2 oder 3 Wochen ist dann keiner mehr hingegangen." (W. R.)
Auch S. H. lehnte den Kirchgang ab. Dennoch nutzte sie die Weihnachtsfeier 1934, um nach mehr als einem Jahr Einzelhaft mit ihrer ebenfalls verhafteten Schwester und einer Freundin zusammenzutreffen:
"Was sich bei der Feier abgespielt hat, das weiß ich gar nicht. Wir waren anders beschäftigt. Ich habe nur gesehen, daß ich mit meiner Schwester und mit Maria zusammenkam. Das hat auch geklappt. Dann haben wir mehr Blödsinn gemacht als alles andere. Z. B. mit meinen dicken braunen Strümpfen. Da habe ich ein Loch 'drin gehabt und dann mit meinem Zeh 'rumgespielt ... Da mußten wir noch vorsichtig sein, damit wir nicht weggejagt wurden ... Solche kleinen Scherze hat man ja doch gemacht ... " (S. H.)
Ein Mitglied der "Sozialistischen Front" berichtet rückblickend von der Weihnachtsfeier 1937:
Im Jahre 1937 im hannoverschen Gerichtsgefängnis hatten sie uns auch eine Weihnachtsfeier gemacht - ja, wir hatten aus unseren Zellen heraustreten dürfen auf den Gang und hinunterschauen in die Zentrale, wo ein Tannenbaum brannte, und Frau Professor Ritter spielte Weihnachtslieder auf der Geige. Es war gewiß gut gemeint von ihr, sie tat das schon seit Jahren zu Weihnachten, schon lange vor der Nazizeit. Aber nun waren wir nicht mehr Mitgliieder der Wohlfahrtsverbände oder der Parlamente, also Zuschauer, sondern plötzlich "Opfer" der Wohltätigkeit zwischen Hunderten von Taschendieben, Rückfallbetrügern und Sexualverbrechern ... Wir mußten es über uns ergehen lassen, daß christliche Priester und deutsche Beamte uns ermahnten, von unseren verbrecherischen Wegen zu lassen und uns zum Guten zu bekehren - und wir wußten, daß sie Heuchler oder ausgesprochene Feinde oder arme Irre waren! Die hatten nun das Recht, uns zu ermahnen, zurückzukehren auf den Weg der Tugend - und wie wir sie verachteten, wegen ihrer feigen Gesinnungslosigkeit oder ihrer Borniertheit! (...)
Sie gaben uns 1937 einen Christstollen, ein Mittagessen zum Abendbrot, Choräle, eine Ansprache und eine Stunde länger Licht. Und manche Wachtmeister drückten Augen und Nase zu und sahen und rochen nicht, wenn wo geraucht wurde. Natürlich waren wir todtraurig, weil wir nicht bei unseren Familien sein konnten. Natürlich waren wir ein bißchen froh über das bessere Essen. Natürlich waren wir niedergedrückt, weil wir angesichts der Erfolge unserer Gegner nicht mehr wußten, ob unsere sozialistische Lehre richtig war. Wir waren ja ganz allein und wußten nichts über die Ereignisse in der Welt. Und wir waren so verzweifelt, weil all die anderen Nationen uns im Stich gelassen hatten, weil sie alle vor Hitler zu Kreuze krochen — ja, und das nächste Jahr sollte noch Schlimmmeres bringen! Aber das ahnten wir noch nicht.
Aus: Die Gemeinschaft — Mitteilungen für politisch verfolgte Sozialdemokraten, 2. Jg., Nr. 11/12, Dez. 1952